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Verabschiedung Josef Wagner

Ein Pilgervater wird nicht mehr wandern

Mehr als 37 Jahre organisierte Josef Wagner die religiösen Wanderungen im Ettal. Nun beendet er seine Arbeit bei den Ettal-Pilgern und erzählt anschaulich, wie sich die Tradition gewandelt hat.

Von Gertrud Adlassnig



„In jedem Menschen gibt es eine Stelle, die nur Gott ausfüllen kann. Die Sehnsucht nach dieser Erfüllung hat mich angetrieben.“ Das sind seine Abschiedsworte an die Ettal-Pilger, die Josef Wagner aus Altersgründen verlässt. Wagner ließ sich 37 Jahre von dieser Sehnsucht leiten. 32 Jahre setzte er sich Jahr für Jahr ein, um einem Gelübde aus der Pestzeit gerecht zu werden. Vor mehr als 350 Jahren hatten Gläubige in Ziemetshausen das Versprechen abgelegt, jedes Jahr nach Ettal zu pilgern, wenn sie von der Großen Pest verschont blieben. Seither ziehen fromme Menschen im Frühsommer in Vesperbild los, um sieben Tage lang betend und singend, aber auch plaudernd, das einst gegebene Versprechen einzulösen. Sogar in der NS-Zeit, als diese Art Frömmigkeit wenn nicht verboten, so doch kritisch beobachtet wurde, ließen sich manche Ettal-Pilger nicht abhalten und tarnten sich als ganz normale Bauersleute, die von einem Ort zu einem anderen unterwegs waren, um etwas zu erledigen. Auch nach dem Krieg erholte sich die Pilgerei nur langsam, auf weniger als 30 Teilnehmer war die Gruppe geschrumpft, blieb aber stets lebendig.

Josef Wagner kannte die Pilgerreise aus eigener Anschauung. Wenn er als Kind bei Verwandten in Langeneufnach die frommen Leute durchreisen sah, habe ihn das sehr ergriffen, erinnert er sich heute. Doch es hat lange gedauert bis der Agawanger schließlich selbst zum Pilger wurde.



Erst 1980 stieß er dazu, sein Schwager hatte ihn zum Mitgehen animiert. Die Ettal-Pilgerei ließ ihn seitdem nicht mehr los. Es war ein Pilgern, unvergleichlich zu der heutigen Form. Jeder war für sich selbst verantwortlich, musste sich um Verpflegung und Quartier kümmern. Und da sei es passiert, 1985, erzählt Josef Wagner.

In Ettal, dem ersehnten Ziel, sah er zwei verstörte junge Frauen aus der kleinen Pilgergruppe. Da standen sie, ohne Quartier, ohne zu wissen, wo sie die Nacht verbringen oder sich erholen sollten. „Das konnte doch nicht sein!“ Eine solche Situation war für Wagner unerträglich, unvereinbar mit dem christlichen Gedanken. Er sann auf eine grundsätzliche Lösung. Die fand er im Organisieren der Ettal-Pilgerschaft. Wagner strukturierte den Weg des einst so losen Zusammentreffens der Frommen. Er nahm Anmeldungen an, sorgte für Unterkünfte, machte Verträge mit Gasthöfen unterwegs, wo die Pilger schnell und reibungslos verpflegt wurden. Das klingt einfacher, als es in der Realität ist.

Wenn bis zu 200 Personen in einer Stunde ihr Essen haben sollen und die Sanitäreinrichtungen nutzen wollen, ist eine perfekte Infrastruktur und Restaurantlogistik notwendig. Eine Verhandlung per Telefon reicht in diesem Fall nicht aus. Da muss man vor Ort sein und sich die Möglichkeiten zeigen lassen. „Es ist ja nicht so, dass man jedes Jahr das Rad neu erfinden muss. Aber Wirte wechseln, Lokale schließen“, erzählt Wagner. „In manchen Orten werden wir von Organisationen wie dem Frauenbund in Schlingen versorgt, da tut man sich leichter. Auch bei den Unterkünften ist immer wieder Neues zu beachten. Die Ansprüche der Pilger steigen. Viele wollen heute ein eigenes Bad.“ Weiter berichtet Wagner: „Alte Gastgeber hören auf, neue haben andere Konditionen oder schon andere Gäste gebucht. So muss jede Saison viel neue Arbeit geleistet werden.“ Wagner hat seinen Rückzug gut vorbereitet: Seit einigen Jahren wurde die Organisation auf eine Reihe freiwilliger Helfer verteilt.

Auch Transporte im Bus wurden von Wagner eingeführt. Schließlich konnte nicht jeder Pilger in unmittelbarer Nähe des Zielortes einquartiert werden. Und einige Pilgerstrecken wurden um einen Bustransfer ergänzt. Das war nötig geworden, denn die Ettal-Pilgerschaft hatte sich zu einer Attraktion entwickelt, die Teilnehmerzahlen wuchsen und wuchsen. Bis zu 300 Pilger zählte man. Heute hat sich die Zahl bei 250 bis 280 stabilisiert.



„Es ist nur ärgerlich, dass manche Pilger nicht so zuverlässig sind, wie man es sich wünscht. Da wir keine Kosten für die Organisation erheben, und jeder Pilger seine Ausgaben vor Ort bezahlt, melden sich immer wieder Personen an, die dann nicht erscheinen“, erzählt Wagner.

Die Mehrheit aber kommt. Sechs bis acht Stunden am Tag gehen die Pilger. Ihr Weg ist geprägt durch Gebete und fromme Lieder, die im Wallfahrtsbüchlein zusammengefasst sind. Auch das hat Josef Wagner, der auch 16 Jahre als Vorbeter fungierte, 1989 überarbeitet und in die Jetztzeit transferiert.

Schon zuvor war ein Begleitfahrzeug organisiert worden, das ein wenig Gepäck transportieren und erkrankte Pilger aufnehmen kann. Seit mehr als 20 Jahren, betont Wagner dankbar, habe Karl Miller aus Ziemetshausen diese Aufgabe kostenlos übernommen.



Es ist eine Mammutaufgabe, die Wagner sich selbst erfunden und über Jahrzehnte erfüllt hat. Doch die gute Organisation der Ettal-Pilgerschaft hat aus der Nischenveranstaltung eine Attraktion gemacht.

Bei der Versammlung der Ettal-Pilger im Pfarrheim in Ziemetshausen wurde die Leistung von Wagner hervorgehoben. Zum Abschied gab es viel Lob, selbst Pater Virgil Hickl aus Ettal war erstmals, wie er verriet, nach Ziemetshausen gekommen. Wagner habe für ihn persönlich den Ettal-Pilgern Stimme und Gesicht gegeben. Auch der Pfarrer der Wallfahrtspilger, Geistlicher Rat Karl Thoma, und Wagners Nachfolger Johann Haugg aus Balzhausen würdigten Wagner, der als väterlicher, hilfsbereiter Freund Wallfahrt vorgelebt habe.

Dass Wagner alles richtig gemacht habe, lasse sich, so Martin Haugg in seinem Wallfahrtsbericht, am besten an den steigenden Pilgerzahlen ablesen. Dafür hat er aber auch unzählige Stunden Arbeit investiert.



Es wird das erste Mal seit 1979 sein, dass sich die Pilgerschar ohne Wagner auf den Weg macht. Wenn seine Ettal-Pilger singend unterwegs sein werden, will auch er unterwegs sein.

„Wir machen Urlaub,“ verrät seine Frau. Denn nicht mitgehen zu können, wird für Wagner schmerzlich. Der räumliche Abstand soll dies lindern.